Vorwort
Das letzte Jahr 2020 geht vermutlich als das Corona-Pandemie-Jahr in die Geschichte ein. Schwerwiegende Entscheidungen standen und stehen bis heute an. Lockdown, eingeschränkte Gottesdienste, Schulschließungen und wieder Öffnungen. Entscheidungen über Entscheidungen.
Es bewahrheitet sich eine Erkenntnis des im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung lebenden griechischen Denker Pythagoras formuliert: „Die kürzesten Wörter, nämlich Ja und Nein, erfordern das meiste Nachdenken“.
- Gesellschaftliche Veränderungen
In Kirche und Gesellschaft des 21. Jahrhunderts gibt es heute viele Optionen. Man spricht von einer „Entscheidungsgesellschaft“. Manche Beobachter/innen dieser Zeit sprechen auch von der Tyrannei der Entscheidung[2]. Wir sind gar nicht mehr frei, nicht zu wählen. Eine Konsequenz der vielen möglichen Wege und Optionen sei es, dass es zu Fehlentscheidungen, Unzufriedenheit und Stress komme.
Dennoch wird meines Erachtens mit Recht darauf hingewiesen, dass viele Menschen heute ihre Freiheit hinsichtlich persönlicher Lebenswege dankbar wahrnehmen, wie zum Beispiel Partner- und Berufswahl.
Vor der geistlichen Betrachtung des Themas möchte ich einen knappen Überblick über die Grundlagen der Entscheidungsforschung geben.
- Entscheidungen in wissenschaftlicher Untersuchung und Forschung
- Der freie Wille – eine Illusion?
Wer über Entscheidungen nachdenkt, kommt nicht an der Debatte um den freien Willen herum. Denn wenn wir aus verschiedenen Möglichkeiten wählen, gehen wir davon aus, dass es einen freien Willen gibt.
Die Freiheit des Menschen und seiner Entscheidungen ist ein Grundpfeiler demokratischer Gesellschaften. Jedoch wird in der Philosophie und Naturwissenschaft um die Freiheit des Willens gestritten. Mich überzeugt am ehesten die Position, die mit der Intuition der meisten Menschen zusammenfällt: Es gibt prinzipiell eine Willensfreiheit, die jedoch von „vielen Faktoren, inneren und äußeren, stark beeinflusst werden“.[3]
Die lutherische Theologie hat sich ebenfalls intensiv mit der Frage nach der Freiheit des Willens beschäftigt. Martin Luther und die Bekenntnisschriften behaupten, dass der Mensch Gott gegenüber keinen freien Willen habe.[4] Die Grundthese ist, dass sich der Mensch nicht aus eigener Kraft und dem eigenen Willen für den Glauben oder das Vertrauen auf Jesus Christus entscheiden kann. Der Grund unseres Daseins ist Gottes Entscheidung für uns. So bleibt der Glaube ein Geschenk und eine Wirkung des Heiligen Geistes.[5]
Damit ist jedoch nicht ein Determinismus gemeint, bei dem davon ausgegangen wird, dass alle „welthaften Ereignisse“[6] und menschlichen Entscheidungen oder Handlungen kausal vorherbestimmt seien und es damit keinen „Spielraum für geschöpfliche Freiheit“[7] gebe. Diesen Gedanken der „Freiheit“ nimmt der 18. Artikel des Augsburger Bekenntnisses auf, in dem es heißt:
„Vom freien Willen wird gelehrt, dass der Mensch in gewissem Maße einen freien Willen hat: Er kann äußerlich ein ordentliches Leben führen und in Angelegenheiten, die der Vernunft zugänglich sind, frei entscheiden…“.
- Entscheidungen entstehen in einem Prozess
Gute Entscheidungen sind nie auf den Moment der Wahl beschränkt, sondern das Ergebnis eines Prozesses. Das heißt, dass man zum einen genügend Zeit braucht, um Alternativen wahrzunehmen. Zum anderen gilt es, zu recherchieren und sich somit zu informieren.[8]
Entscheidungen kann man mit Hans-Rüdiger Pfister und weiteren Autoren als einen mentalen Prozess verstehen, „dessen zentrale Komponenten Beurteilungen (judgments), Bewertungen (evaluations) und Wahlen (choices) sind“[9].
Die Coronapandemie wurde zu einer Entscheidungssituation, weil jede Entscheidung unmittelbare Konsequenzen für die Gesellschaft haben würde. So standen und stehen zwei Werte einander gegenüber, die beurteilt werden müssen: Sind zum Beispiel Schulöffnungen vor dem Hintergrund der sich verbreiteten Virusmutationen vertretbar mit dem Risiko, dass damit die Pandemie schwerer einzudämmen ist? So müssen in dieser Entscheidungssituation die Vor- und Nachteile der geplanten Schulöffnungen bewertet und daraufhin eine Wahl getroffen werden.
„Jede Entscheidung zielt darauf ab, einen unklaren Zustand zu beenden. Es geht um Klärung und ‚Entschiedenheit‘.[10]
- Was Entscheidungen treffen schwer machen kann
Je mehr wir entscheiden können, desto brennender wird die Frage laut: „Wie sollen wir leben?“ Die vielen Möglichkeiten bei einer Entscheidung heute haben unser Leben verändert.
Und noch etwas macht das Entscheiden schwer:
Je mehr Möglichkeiten vorhanden sind, desto weniger Optionen kann ich verwirklichen. Wenn auf einer Menükarte 10 Gerichte stehen, verzichte ich auf neun nach meiner Entscheidung. Stehen jedoch 100 Gerichte auf der Karte, habe ich 99 Möglichkeiten verworfen.
Mit jeder Entscheidung stirbt etwas – eine andere Erfahrung vielleicht, eine andere Weise, die Welt zu entdecken.
Eine Entscheidung ist nicht deshalb schwierig, weil wir Menschen dumm oder unfähig seien. Entscheidungen sind nie einfach, wenn es um etwas geht. Und manchmal ist es so, dass es schlicht keine beste Möglichkeit gibt. So fragt sich eine junge Frau, welcher Beruf der Beste sei: Ärztin oder Juristin? Der eine Beruf passt vielleicht besser zu ihr. Der andere Beruf hat mehr Vorteile. Das heißt, etwas überspitzt, es sollte vermieden werden, den „richtigen“ Weg zu suchen, weil es ihn nicht gibt. Selbst wenn wir alles über mögliche Wege wissen würden, bleibt die Entscheidung eine „harte“ Entscheidung.
Es gibt oft kein Richtig oder Falsch. Es ist nicht die Frage, welche Entscheidung die bessere ist, sondern welcher Mensch will ich sein? Im Hintergrund harter Entscheidungen steht vor allem diese Frage nach den eigenen Werten und was uns wirklich wichtig ist. Ohne einen eigenen Hintergrund an Werten, Einstellungen und Überzeugungen bleiben Menschen eher „postmoderne Surfer“, ohne Orientierung bei Entscheidungen. Das Problem der Vielfalt von Entscheidungsmöglichkeiten ist nur zu lösen, wenn wir für uns einen großen Teil der Optionen ausschließen können. Erst dann bedeutet die Vielfalt auch Freiheit.
- Schritte zu einer guten Entscheidung
- Denkfehler kommen vor
Dazu vier kurze Hinweise und dazu gehörende Fragen:
- Einrahmungseffekte
Gibt es äußere oder innere Begrenzungen, die mein Denken und Fühlen zu schnell einengen, wie zum Beispiel der Gedanke: „Das kann ich nicht ablehnen“? Spannend wäre zu fragen, ob es noch andere Alternativen gibt.
- Selbstbestätigungseffekte
Wenn wir eine Entscheidung innerlich getroffen haben oder emotional eine Alternative vorziehen, neigen wir dazu, genau für diese Alternative bessere Argumente zu suchen. Wir sind nicht mehr offen. Das ist einfach menschlich.
- Kurzzeitiges Wohlgefühl
Viele Entscheidungen werden getroffen, weil sich Menschen damit kurzfristig wohl fühlen oder den Prozess einer Entscheidungsfindung zu mühevoll finden.
- Selbstüberschätzung
Häufig überschätzen wir uns und denken: Wir sind klug, informiert und rational und damit gute Entscheider. Das ist nicht immer der Fall.
- Entscheidungen und der christliche Glaube
3.1. Apelle der Heiligen Schrift
Entscheidungen haben im christlichen Glauben immer auch mit den Worten und Weisungen der Heiligen Schrift zu tun, insbesondere mit den Weisungen der zehn Gebote und den ethischen Hinweisen des Neuen Testaments. Aber die Heilige Schrift ist kein „Gesetzbuch“ mit Regeln für jede Situation und jede Entscheidung. Wer die Bibel dazu macht, wird ihr nicht gerecht, denke ich. Und ich werde auch mir selbst nicht gerecht, weil meine konkrete Situation oft nicht direkt zu vergleichen ist mit dem, was die Bibel formuliert.
Immer wieder gibt es Predigerinnen und Prediger im Christentum, deren oft gar nicht bewusster Leitsatz lautet: „Radikalität ist das Kennzeichen der Wahrheit! Je radikaler der Wille Gottes verkündigt wird, desto biblischer, desto christlicher ist die Predigt.“[13]
Daraus folgt häufig der Ansatz, dass nur der, der diesen steilen Weg mitgeht und bejaht, verstanden hat, worum es im Glauben geht. Damit wird ein schwerwiegender Kreislauf in Gang gesetzt, indem Christen sich immer mehr um Gottes Willen mühen, aber letztlich dazu verdammt sind, zu scheitern.
Natürlich scheitern wir als Christen an Gottes Willen immer wieder, weil wir Menschen sind, die nicht nur lieben und nicht nur vertrauen. Und selbstverständlich ist es ein Geschenk Gottes, dass er uns die Schuld vergibt und wir neu beginnen dürfen.
Aber vielleicht helfen uns ja in Entscheidungssituationen und unserer Frage nach dem Willen Gottes auch solche Worte, die einen anderen Weg aufzeigen und eine andere Spur legen:
Im 1. Johannesbrief stehen die Worte: „Seine Gebote sind nicht schwer!“ (1.Johannes 5,3). Und Jesus sagt: „Kommt her, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ (Matthäus 11,28-30).
Die Mühseligen sind die, die sich mit etwas Schwerem abmühen und erschöpft sind. Als beladene Menschen sieht Jesus höchstwahrscheinlich die, die sich in religiöser Hinsicht überfordern oder von anderen überfordern lassen.[14]
Im Gleichnis von den anvertrauten Pfunden bekommen drei Knechte verschiedene Beträge anvertraut nach der individuellen Eignung oder nach der persönlichen Möglichkeit. Alle drei erhalten eine große Summe und doch gibt es keine „Gleichmacherei“. Jesus geht es hier nicht um die Überforderung der Knechte als einem Prinzip, sondern will sie vermeiden.
Teil 2 erscheint in der nächsten Ausgabe der BLK und fragt nach Gottes Willen für mein Leben und Entscheidungen, die getragen sind von der Lutherischen Spiritualität.
(Website: Kategorien: Gesellschaftliche Fragen)
[1] Der Vortrag wurde ursprünglich als Gemeindevortrag im Rahmen des Wilhelm-Löhe-Seminars am 25.02.2021, Diakonissenwerk Korbach als digitaler Vortrag gehalten und von Pastor Rüdiger Gevers für die BLK gekürzt. In diesem Beitrag erscheint der erste Teil und in der nächsten Ausgabe der zweite und letzte Teil des Vortrags.
[2] So u.a. Hannah Arendt (1906-1975), die von der Tyrannei der Möglichkeiten spricht. Vgl. Hürter, Tobias, Reinhard, Rebekka, Vasek, Thomas, Mehr Freude an der Wahl, in: Hohe Luft, Philosophie-Zeitschrift, Ausgabe 2/2016 Ja – Nein. Wie man sich richtig entscheidet, 24
[3] Svenja Flaßpöhler, Editorial. Auf Messers Schneide, in: Philosophie Magazin, Nr. 02/2019 Februar/März, Dumm gelaufen. Wie treffe ich eine gute Entscheidung, 3
[4] Vgl. Martin Luther, Vom unfreien Willen, 1525
[5] Vgl. die Erklärung zum Dritten Artikel in Martin Luthers Kleinen Katechismus: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus glauben oder zu ihm kommen kann….“
[6] Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin, New York, 1995, 479.
[7] Ebd.
[8] Vgl. Huber, Andreas, Wolf, Axel, Die bessere Wahl, in: Psychologie Heute compakt. Die Kunst, sich zu entscheiden, Nr. 61, 2020, 16
[9] Hans-Rüdiger Pfister, Helmut Jungermann, Katrin Fischer, Die Psychologie der Entscheidung. Eine Einführung, 4.Auflage 2017, 3f
[10] Matthias Nöllke, Entscheidungen treffen. Schnell, sicher, richtig, Haufe, 6 Auflage 2015, Freiburg, 7
[11] Dieser Begriff wurde von der Philosophin Ruth Chang von der Rutgers University in New Jersey eingeführt. Vgl. dazu die Ausführungen bei Hürter, Tobias, Reinhard, Rebekka, Vasek, Thomas, Mehr Freude an der Wahl, in: Hohe Luft, Philosophie-Zeitschrift, Ausgabe 2/2016 Ja – Nein. Wie man sich richtig entscheidet, 24f
[12] Vgl.Huber, Andreas, Wolf, Axel, Die bessere Wahl, in: Psychologie Heute compakt. Die Kunst, sich zu entscheiden, Nr. 61, 2020, 16
[13] Deichgräber, Reinhard, Gottes Willen erkennen und tun, Geißen, 25
[14] Vgl. a.a.O., 24-25